Wie schafft man 65 Kilometer Radtour durch Stadtgebiet in einer erträglichen Zeitspanne – wo man doch alle 50 Meter an irgendeiner Ampel warten muss? Dieser Frage muss ich mich an meinem heutigen Etappentag stellen, führt doch die Friedensfahrt von Neu-Vehlefanz nach Schöneiche mitten durch Berlin.
Ich beschließe, einen Teil des 160 km langen Mauerradweges zu nutzen, der an der von 1961 bis 1989 die Stadt teilenden Berliner Mauer entlangführt. Über Facebook konnte ich noch Jürgens Sohn Max als Begleitung hinzugewinnen und ich verabrede mich mit beiden am S-Bahnhof Hermsdorf, damit sie die Mauerwegetappe dort frisch beginnen können.
Mein Navi und ich haben schon wieder geteilte Ansichten darüber, was die kürzeste Strecke sei – das Gerät schlägt die Katheten eines rechtwinkligen Dreiecks vor, während ich dessen Hypothenuse bevorzuge. Ich setze mich durch und spare flugs vier Kilometer Strecke ein.
Zum ersten Mal in meinem Leben fahre ich mit dem Fahrrad nach Berlin hinein. Das Ortsschild mit Graffiti signalisiert: hier wird gesprayt. Meine Abkürzung führt durch einen menschenleeren Wald in Frohnau, nachdem ich die Autobahn 111 überquert habe, die ich aus dieser Perspektive auch noch nie erlebte.
»Ost auf Rote Chaussee« meldet mein Navi, und ich finde das im grünen Wald überaus stimmig. In Hermsdorf sind die Freunde startbereit als ich eintreffe und wir begeben uns auf die Suche nach dem Mauerweg. Dieser führt zunächst über einen Bohlenpfad durch ein Moor und später auf einen anstrengend steilen Hügel – meine erste Bergstrecke ausgerechnet in Berlin? Von besagtem Hügel genießen wir den Ausblick auf das Märkische Viertel, und die sinnlos auf der Wiese verteilten Flutlichtstrahler erinnern an die füher hier verlaufenden Grenzbefestigungen.
Es fällt mir schwer, dem in dezentem Grau beschilderten Mauerweg zu folgen, besonders wenn man im Gespräch vertieft ist. 35 Jahre hat es gedauert, bevor ich mit Freund Mauss auf Fahrradtour gehe, doch er protestiert, dass wir auf der niederländischen Nordseeinsel Schiermonnikoog, wo wir uns zur jährlichen Pfingstfamilienfreizeit treffen, schon gemeinsam Rad gefahren wären.
Mit einigem Aufwand habe ich einige markante Kreuzungen des Mauerradweges in mein Navi übertragen – die ganze Strecke im Garmin-Format (dem meistgebrauchten Radwandergerät) zum Download bereitzuhalten, ist bisher wenigen Radwanderwegwebseitenanbietern eingefallen – löbliche Ausnahme bildet das Verkehrsministerium in Nordrhein-Westfalen, auf dessen Website man wie beim Autoroutenplaner Start- und Zieladresse eingibt und zwei Häkchen bei »Radwanderwege nutzen?« und »Steigungen vermeiden?« setzen kann und schwuppdiwupp die Fahrrad-Route ins Gerät überspielt.
Stattdessen bekomme ich auf dem Mauerweg-Radwiki eine Datei im Google Earth-Format, die ich über zig noch herunterzuladende Programme ins Garmin-Format übertragen, und auch noch die Bilddateien für die Symbole von Hand hinzufügen soll – das ist mir dann doch zu mühselig. Die Idee mit der Kreuzungsangabe zahlt sich aus, verliere ich doch alle Nase lang den Mauerweg aus den Augen – schließlich sollte man an den wenigen Stellen, wo er mit dem Autoverkehr zu tun hat, auf diesen auch achten.
Bei Max machen wir Mittagspause und ich verabschiede mich von ihm und Jürgen, der jetzt noch einen anderen Termin wahrnehmen muss, sonst wäre er sicher mit mir bis Schöneiche durchgefahren …
Das Stück Mauerweg hinter dem Reichstagsgebäude ist polizeiverwehrt – wahrscheinlich wird Angie dort gleich vorfahren. So komme ich doch noch zu einem respektablen Foto der Vorderseite des Gebäudes, und auch das Brandenburger Tor wird mit IOGT-Wimpel-bestücktem Rad für die Nachwelt festgehalten.
Um in dem Menschengewühl aufzufallen, hätten selbst die 21 Mitfahrer aus Winsen nicht genügt, da wären wir erst mit 2100 zur Geltung gekommen. Gut, dass ich für solcherart Logistik nichts vorzubereiten brauchte – ab 100 Fahrern benötigt man sicher schon einen eigenen Toilettenwagen. Ich warte nicht länger auf Angie, verliere wieder mal den Mauerweg und gelange unter vielen anderen auch über die Rudi-Dutschke-Straße wieder zur Oberbaumbrücke auf den Mauerweg, nur um ihn dort gleich wieder zu verlassen, denn jetzt wird Schöneiche zum Hauptziel, wo sich dieses Wochenende der Bundesausschuss der Guttempler zu seiner Frühjahrssitzung trifft.
Auf dem Weg durch Ostberliner Stadtteile erkenne ich das Freizeitgelände Wuhlheide wieder, auf dem 1994 IOGT und EGTYF ihre Kongresse mit Kinder- und Jugendlagern durchführten und passiere später die Salvador-Allende-Straße. Rudi Dutschke und Salvador Allende miteinander auf einem Weg zu verbinden, kann man wohl nur in Berlin. In Schöneiche komme ich gerade rechtzeitig zur Kaffeepause an, so dass alle entspannt zum Begrüßungsfoto antreten. Neben den Ausschuss-Mitgliedern sind auch der Bundesvorstand, die Geschäftsführerin, die Suchtreferenten sowie Inga und Sarah von KiM – Kinder im Mittelpunkt in der Runde dabei und zum Ausklang des ersten Sitzungstages darf ich vom bisherigen Verlauf der Tour berichten. Morgen fahre ich ausnahmsweise nicht weiter, sondern vertrete Mecklenburg-Vorpommern im Bundesausschuss. Übermorgen geht die Fahrt dann mit einigen Begleitern ins Guttemplerhaus nach Berlin.