Von glucksenden Geräuschen unter meinem Kopfkissen erwache ich heute, was die morgendliche Desorientierungsphase (»Wo bin ich? Wer bin ich?«) nur noch mehr verlängert. Bremen, Weser, Boot, fällt es mir wieder ein. Freund Harald hatte sich vor einigen Jahren seinen Traum erfüllt und ein Boot erstanden, dass er »Drøm« getauft hat, um damit einmal in seinen Lieblingshafen auf der dänischen Insel Fanø einzulaufen. Als gebürtiger Bremer habe ich noch nie in der Innenstadt auf der Weser übernachtet und mit seinem extravaganten Schlafplatz-Angebot hat er mir eine besondere Freude bereitet. Ich befinde mich Auge in Auge mit dem Alkoholkapital – auf dem gegenüber liegenden Ufer befindet sich Bremens größte Brauerei, die mittlerweile genau dem US-Multi gehört, der seine Lobbymacht dazu missbraucht hat, Brasilien zum Alkoholausschank in Stadien während der diesjährigen Fußball-Weltmeisterschaft zu zwingen.
Früher waren Harald und ich mal Guttempler-Landesvorsitzende, er in Bremen, ich in Hamburg und wir haben uns darüber bald sehr gut verstanden, ähneln doch die Verbandsstrukturen, Aufgaben und Arbeitsweisen in beiden Stadtstaaten einander. Von ihm übernahm ich die Idee der Klausurtagungen für Gemeinschaftsvorsitzende und er von mir die Haltung, nicht über fehlende Teilnehmer an Seminaren oder Arbeitsgruppen zu jammern, sondern mit den Anwesenden loszulegen und etwas Kreatives auf die Beine zu stellen.
Die Ansicht, dass das rücksichtslose Rauchen in Gruppenräumen toleriert werden müsse, nur damit uns die Gruppenteilnehmer nicht davonliefen, habe ich nie geteilt. Rücksichtnahme ist unabhängig von Suchterkrankung möglich und aus medizinischer Sicht gibt es überhaupt keinen Grund, nach dem Alkoholentzug nicht auch mit dem Rauchen aufzuhören. Harald wollte damals nichts davon wissen und meine scherzhaft gemeinte Bemerkung, ich wolle schließlich nicht an seinem Grab stehen müssen, konterte er knorrig, »das werden wir ja noch sehen«. Nun hat er Krebs im Endstadium und ich überhaupt keine Freude daran, Recht behalten zu müssen. Seinen Traum von Fanø per Boot hat er inzwischen abgeschrieben, aber er genießt jetzt jeden verbleibenden Tag bewusst und so auch unser heutiges Zusammensein. Ich staune über die Gelassenheit, mit der er dem nahenden Tod begegnet. Er glaubt, sein Umfeld hätte damit viel mehr Schwierigkeiten.
Er behält Recht damit. Wie verabschiedet man sich von einem Menschen, wenn man nicht weiß, ob man ihn je wiedersieht? Beim Davonfahren fangen die Tränen an zu rollen und das liegt nicht am schneidend kalten Wind. Falls wir uns nicht mehr sehen sollten, Harald: Farvel, min ven. Und ihr anderen: Hört endlich mit der verdammten Qualmerei auf!
Am Bremer Guttemplerhaus treffen Dietmar und ich uns mit Richard aus Worpswede, doch ich finde mich nach dem Erlebten nur schwer in den bevorstehenden Tag hinein. Den Weg nach Osterholz-Scharmbeck entlang der kleinen Wümme kenne ich aus Jugendtagen, als ich ihn einmal die Woche abends nach dem Jugendgruppentreffen der »JoA« (Jugend ohne Alkohol) in der Gegenrichtung befuhr. Heute gehört er grün beschildert zum Radwegenetz Bremens und schlängelt sich nach wie vor durch Marschen und moorige Gewässer mit Birkenbestand. Auf der Wümmebrücke warten der niedersächsische Schatzmeister Reinhard von Oehsen und Gerhard Michaelis aus Osterholz-Scharmbeck mit meinem Bruder Oliver schon auf uns und begleiten Dietmars triumphale Rückkehr nach Niedersachsen. Er ist heute nämlich im Weser-Kurier groß herausgekommen, der in einem halbseitigen Artikel über die Friedensfahrt, die Guttempler in Bremen und ihre Suchthilfeangebote berichtet.
Die restliche Strecke ins Guttemplerhaus Osterholz-Scharmbeck, laut Eigenwerbung das einzige Deutschlands mit Bahnanschluss, da sich der Bahnhof drei Fußminuten entfernt befindet, verläuft rasch und ohne besondere Vorkommnisse. Es ist immer noch Wochenende und so beträgt auch unsere heutige Etappe nur magere 22 Kilometer. Im Restaurant stellen wir fest, dass wir alle das gleiche Menü zum Mittag bevorzugen – eine eingeschworene Fahrgemeinschaft ist also innerhalb einer Stunde zustande gekommen. Bei Heidrun und Gerhard gibt es anschließend Kaffee und Kuchen, zu dem noch Jürgen Möller auf der Rückfahrt von einem Seminar in Hoya hinzukommt. Gerhard berichtet von Schwierigkeiten mit der Website der Osterholzer Guttempler, so dass ein Einsatz von Website-Repair-Man erforderlich wird. Spätabends ist guttempler-ohz.de in einer abgespeckten Durchstart-Version immerhin am Laufen. Morgen fahren wir über Bremen-Vegesack nach Oldenburg.